Facharzt für Psychotherapeutische Medizin

Der Hühneradler

Weißkopfseeadler

@Marcel Schauer – Fotolia.de

Dies ist eine meiner Lieblingsgeschichten. Ich erzähle sie oft meinen Patienten, wenn sie unter einem Selbstwertproblem leiden. Es ist die Geschichte vom Hühneradler. Nebenbei ist diese auch noch ein sehr schönes Bild für Heilung und Begleitung dabei.

Es war einmal ein Indianer, der lebte im Norden Amerikas, dort, wo die großen Wälder, die hohen Berge und weiten Graslandschaften sind. Jedes Jahr wanderte der Indianer von Norden nach Süden und von Süden nach Norden.

Auf einer seiner Wanderschaften kam er zu einer Hühnerfarm. Als er sich genauer umsah, entdeckte er mitten unter der Hühnerherde einen Adler, der sich seltsam bewegte und pickte und scharrte wie die anderen Hühner. Beim Anblick dieses Hühneradlers spürte der Indianer einen Schmerz in seinem Herzen.

Er ging zum Farmer, bat um ein Glas Wasser und wollte ihm den Hühneradler abkaufen. Mit der Bemerkung: „ Endlich bin ich dieses nutzlose Vieh los! Er frisst nur meine Futter und legt keine Eier!“ schenkte der Farmer dem Indianer das Tier. Der Indianer bedankte sich und nahm seinen neuen Freund liebevoll auf seinen Arm.

Der Indianer sang ihm Lieder, erzählte Märchen und Mythen von den großen heiligen Vögeln und was seine Stammesbrüder mit den Adlerfedern machen. Langsam, ganz langsam wurden sie Freunde, der Indianer und der Hühneradler.

Und so überlegte er, wie er seinem Freund helfen konnte, sich daran zu erinnern, dass er kein Huhn, sondern ein Adler ist. Einige Tageswanderungen entfernt gab es einen hohen Berg, dessen eine Seite in einer sehr langen Steilwand abfiel. Und dorthin musste er ihn bringen, damit der Hühneradler sich wieder in einen echten Adler verwandelt.

Einige Tage und Nächte wanderte der Indianer. Endlich an einem heißen Sonnentag im Sommer erreichte er die Spitze des Berges. Eine Nacht noch, bis zum nächsten Mittag, wollte er warten, um seinen Freund gut vorzubereiten für den großen Augenblick des Abschieds. Lange saß er in der Nacht, seinen Adlerfreund im Arm. Alles war still und er betete. Über ihm der Mond und die Sterne.

Am nächsten Morgen ging der Indianer wieder mit seinem Freund zu der Stelle, wo er vorhatte, den Hühneradler weit hinaus in den Abgrund zu werfen. Alles war gut. Die Sonne stand hoch am Himmel, der Wind war günstig. Und ganz zärtlich, mit Wehmut und Zuversicht im Herzen, nahm er Abschied von seinem Freund und streichelte behutsam die wunderschönen Adlerfedern. Dann drehte er sich einige Male schnell um seine Achse, sammelte seine ganze Kraft und warf ihn weit und hoch hinaus.

Und voller Angst sah er, wie sein Freund tiefer und tiefer fiel, wie ein Stein. Manchmal im Ansatz ein ungeübtes und taumeliges Flattern, wieder und wieder, und noch einmal, schon weit unten in der Tiefe und fast verloren. Dann… dann… endlich, die Flügel breiteten sich aus und hielten, stark genug. Und getragen vom Aufwind zog der Adler kleine, dann immer größere Kreise, sicher fest und stark. Oben tanzte und lachte und sang der Indianer voll Freude. Nach einer Weile näherte sich der Adler seinem Freund. Mit einer Adlerschwinge streifte er fast das Kopfhaar, so, als wollte er sich auf diese Weise bedanken und verabschieden. Und nicht lange darauf war er verschwunden im weiten Blau des Himmels.

Der Indianer kniete nieder.

Aus: „Finde das Leben, von dem du träumst. „John Eldrege, Brunnen Verlag