Wieso Traumata oft vererbt sind und wie sie heilen können
In Familien gibt es oft „Krieg“. Man fühlt sich heimatlos, ohne Wurzeln. Menschen werden unterdrückt, ausgegrenzt, verurteilt und bekämpft. Viele Menschen leiden unter unerklärlichen Angstzuständen oder medizinisch nicht verstehbaren, unklaren Symptomen. Manchmal haben sie eine Todessehnsucht, ohne es erklären zu können oder es gibt Häufungen an Unfällen.
Auch in den therapeutischen Gesprächen gibt es manchmal keine Hinweise auf Ursachen für diese Phänomene in der aktuellen Lebenssituation oder in der Biografie der Betroffenen.
Dann hilft oft eine erweiterte Anamnese, in der man die Lebensgeschichte der Eltern und Urgroßeltern heranzieht, nach Kriegserlebnissen, Verlusten, Traumata und Ausgrenzungen fragt.
Und plötzlich entdeckt man des öfteren Wiederholungen in den Schicksalen, Hinweise auf Identifikationen mit bereits verstorbenen Menschen und Weitergabe von Schuld oder Sühne.
Diese „Vererbung“ erfolgt nicht nur über die sog. Spiegelneurone (das Kind spürt die Trauer in den Augen der Mutter und wird selbst traurig), sondern auch über systemische Verstrickung und Identifikation mit Personen aus der Herkunftsfamilie, denn nichts ist so wichtig, wie jede einzelne Person im Familienverbund und die richtige Ordnung im System.
Aus Liebe übernimmt dann oft ein nachfolgender Angehöriger (z.B. Enkel) die Last oder Schuld des Vorfahren oder weist über ein unerklärliches Leiden auf einen verstorbenen und vergessenen Verwandten hin. So kann er selbst sein eigenes Leben nicht mehr leben!
Hinzu kommt das Leid, das entsteht, wenn z.B. Vaterlosigkeit oder blockierte Trauer über das Verhalten und die Beziehungsunfähigkeit der Eltern an die Kinder weitergegeben werden.
Heute sind sich Forscher darin einig, dass die jetzigen Generationen auch noch indirekt unter den Traumata und Folgen der beiden Weltkriege zu leiden haben und zwar auf einer direkten, familiär bedingten Weitergabe beruhend. Ist z.B. ein Vater im Krieg als Soldat vermisst, so hinterlässt er quasi eine Lücke, ein schwarzes Loch. Es entsteht so etwas wie ein Sog, in welchen ein Angehöriger hineingezogen werden kann und welcher versucht, den fehlenden Teil zu ersetzen – mit der Konsequenz, dass er selbst wieder als Vater fehlen wird, ein Teufelskreis.
Beginn der Heilung
Es beginnt mit der Erkenntnis und Selbstwahrnehmung, dass die erlebten Symptome und Verhaltensweisen nicht zu mir passen und auch nicht aus meiner Biografie erklärbar sind.
Dann ist es sinnvoll, den Stammbaum zu betrachten und nach wichtigen Ereignissen zu durchforsten. Dies allein bringt schon Entlastung, denn ich weiß, dass es eine Erklärung für meine Probleme gibt, auch wenn ich sie zuerst am falschen Ort gesucht habe.
(Ich kenne beispielsweise eine junge Klientin, die psychosomatisch erkrankte, als ihr erstes Kind geboren wurde. Seither hat sie viele Untersuchungen und Behandlungen über sich ergehen lassen, ohne Erfolg. Ihre Ängste und Symptome blieben. Sie ist eine sehr patente, glücklich verheiratete Frau, doch wurde ihre Mutter aus verschiedenen Gründen von der Familie ausgestoßen und wird bis heute verleugnet, so dass ich eine Identifikation mit ihr hinter der Krankheit der Klientin vermute – das eigene Mutter werden hat das Kind sein reaktiviert).
In einem nächsten Schritt kann man dann mit Hilfe einer Familienaufstellung oder auch in eigener, innerer Arbeit die Verstrickungen und Traumata in der Herkunftsfamilie sichtbar machen und auf symbolische Weise heilen. Man gibt Verantwortung zurück, deckt Schuld auf, integriert einen verloren gegangenen Menschen und so kann das Familiensystem wieder durchatmen und jeder kann frei seinen eigenen Platz darin finden.
Obwohl wir alle in einer Schicksalsgemeinschaft leben, ist es doch nicht unsere Aufgabe, das Schicksal anderer zu lösen, auch wenn wir dies aus Angst, Liebe oder Verpflichtung manchmal versuchen.
Gelingt diese Lösung in Liebe, die nur dann eine Lösung ist, wenn sie für alle Beteiligten stimmt, dann kann die Liebe und der Segen wieder von einer Generation zur nächsten fließen (wie bei einer Wassertreppe) und Heilung geschieht.
Diesen Prozess zu ermöglichen und zu unterstützen dient meine Arbeit in der Familienaufstellung und ich bin sehr dankbar, wenn solche Prozesse geschehen.
Dr. Klaus Hettmer im August 2015
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