Wer nicht vergibt, verbaut sich seine Zukunft
Interview mit ERF-Online April 2014:
ERF-Online:
„Jemandem zu vergeben, der mich verletzt hat, fällt nicht leicht.
Welche Vorteile hat es für mich zu vergeben?“
Dr. Klaus Hettmer:
„Der wichtigste Vorteil ist, dass die Verletzung dadurch heilen kann. Das heißt, die Verletzung schreitet nicht weiter voran. Andernfalls kann das dazu führen, dass ich durch meine Verletzung andere oder mich selbst verletze. Und das entwickelt sich dann zu einem Teufelskreis der gegenseitigen Schuld. Es gibt diesen Satz: Wenn man nicht vergibt, ist das wie wenn man durch den Stich einer Biene getötet wird. Das Gift arbeitet immer weiter.
Viele medizinische Studien deuten darauf hin, dass vergeben gesund ist. Vergebung hat keinerlei negative Folgen, dafür aber sehr viele positive Auswirkungen, z.B. dass der Blutdruck sinkt und Entzündungen schneller heilen. Wenn man nicht vergeben kann, ist es dagegen genau gegensätzlich. Schmerzen dauern länger, Entzündungen und Wunden heilen nicht so gut. Das Risiko für Herz-Kreislaufkrankheiten steigt.
Vergebung ist also einer der Schlüssel zu einem glücklichen Leben und zu gelingenden Beziehungen. Es gibt aber noch weitere Schlüssel. Dankbarkeit zum Beispiel oder Demut. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass Vergebung etwas ganz Großartiges ist, um selbst heil zu werden und Beziehungen zu heilen.
Gerade heute früh habe ich meiner Frau vergeben. Es gibt Themen, die immer wiederkehren. Zum Beispiel das Gefühl, zu kurz zu kommen. Da muss man immer wieder ran. Gerade in Beziehungen muss man sich immer wieder gegenseitig vergeben und Vergebung auch empfangen.
Vergeben heißt nicht gut heißen.“
ERF-Online:
„Verbaue ich mir möglicherweise meine eigene Zukunft, wenn ich nicht bereit bin, zu vergeben?“
Dr. Klaus Hettmer:
„Ganz kleine Dinge kann man vielleicht noch wegstecken. Wer nicht vergeben kann, verbaut sich aber trotzdem einen großen Teil der Zukunft. Ich erzähle meinen Patienten folgendes Beispiel: Wenn eine Frau verärgert ist über Ihren Ex-Mann und sie schaut immer zu ihm zurück und sagt: „Ich habe noch etwas zu bekommen. Ich bin noch sauer.“ – dann schaut sie nur in die Vergangenheit und ist unfähig, die Gegenwart oder Zukunft zu gestalten. Das Unrecht, das ihr passiert ist, verschwindet dadurch ja nicht. Wenn ich wirklich loslasse, bekomme ich es von anderer Seite vielleicht sogar erstattet.“
ERF-Online:
„In einem Sprichwort heißt es: „Vergeben heißt nicht vergessen.“ Inwiefern hilft Vergebung mir, selbst wenn ich noch unter den Auswirkungen der Verletzung leide?“
Dr. Klaus Hettmer:
„Vergebung beginnt mit einer Entscheidung. Dabei hilft es, wenn man weiß, warum der andere mich verletzt hat Manche sprechen aber auch vorschnell eine Entschuldigung aus. Das ist eigentlich nicht richtig. Wenn die Verletzung noch weh tut, muss man sich das auch zugestehen. Da helfen praktische Schritte zur Vergebung. Ein Schritt lautet: „Die Verletzung, die eigenen Gefühle zulassen“. Man muss den Schmerz und die Bitterkeit zwar zulassen und sich darum kümmern, aber man darf nicht dauerhaft daran festhalten. Dadurch nimmt man der Vergangenheit den schädlichen Einfluss.
Es geht auch nicht darum, das zu vergessen, was war. Vergeben heißt nicht gutheißen, sondern loslassen um selbst in die Freiheit zu kommen. Es kann sogar bedeuten, mal Abstand vom anderen zu nehmen. In der Bibel heißt es, man solle wegen der gleichen Sache 7 mal 77 mal an einem Tag vergeben. Es geht also um eine Lebenshaltung, einen Lebensstil. Wenn ich wirklich vergebe, hole ich es nicht mehr hervor.“
ERF-Online:
„Wer kann mir helfen, damit ich vergeben kann?“
Dr. Klaus Hettmer:
„Viele gehen zu Menschen, die ähnliches erlebt und bewältigt haben. Es ist also wichtig, Freunde oder Menschen zu finden, die einen verstehen und einem sagen: „ Ich verstehe deine Verletzung und du darfst deine Gefühle diesbezüglich zeigen, aber Du kannst darüber hinwegkommen. Einer der Schritte wird irgendwann sein, zu vergeben. Vielleicht nicht sofort, aber stell Dir vor, Du kannst nie vergeben. Wie würde Dein Leben dann ausschauen? Und stell Dir vor, wie es ausschaut, wenn Du irgendwann vergeben kannst.“ Natürlich können auch Therapeuten oder Seelsorger auf dem Weg helfen. Ich bin ja auch ein gläubiger Mensch und in der Bibel findet man viele Beispiele, was Vergebung bewirken kann. Und auch in meiner Praxis habe ich schon erstaunliche „Wunder“ durch die Macht der Vergebung erlebt.
Vergeben kann man lernen.“
ERF-Online:
„Fühlt man sich auch befreit, wenn man jemand anderem Vergebung zuspricht?“
Dr. Klaus Hettmer:
„Auf jeden Fall. Ein Beispiel: Wenn man jemandem Geld leiht und bekommt es nicht zurück, wird man sauer. Es beschäftigt einen immer wieder und kann einem richtig zur Last werden. Aber wenn ich dann dem anderen sage „Ich schenke Dir das Geld. Ich erlasse Dir die Schuld.“ – dann ist das nichts anderes als Vergebung. Man erlässt jemandem die berechtigte Schuld, um selber frei zu werden. Man kann sich nur in Liebe voneinander lösen. Sonst ist man wie über eine Energie noch an den anderen gebunden. Das ist wie in der Quantenphysik. Da hat man festgestellt, dass Teilchen auch nach einer Trennung noch durch eine Energie verbunden sind. Nur durch Liebe kann ich diese negative Energie lösen. Von Lewis Smedes stammt der Satz: „Wenn man vergibt ist es, wie einen Gefangenen frei zu lassen, um zu entdecken, dass man selbst der Gefangene war.“
ERF-Online:
„Was ist aus psychologischer Sicht schwerer: sich selbst oder anderen zu vergeben?“
Dr. Klaus Hettmer:
„Das kann man nicht generell sagen. Aber den meisten Menschen scheint es am schwersten zu fallen, sich selbst zu vergeben. Gerade, wenn man selber schuldig geworden ist. Aber auch da gibt es ein paar Schritte, die man gehen sollte. Man muss die eigene Schuld anerkennen, dazu stehen. Man sollte daraus lernen, vielleicht Wiedergutmachung leisten und zuletzt auch sich selber vergeben. Der vierte Schritt ist, von Gott Vergebung annehmen.“
ERF-Online:
„Können Sie erklären, warum es schwerer ist, sich selbst zu vergeben?“
Dr. Klaus Hettmer:
„Das hat vielleicht damit zu tun, dass uns schon in der Kindheit eingetrichtert wurde: „Du bist schuld! Du hast etwas gemacht, was nicht wieder gut zu machen ist“. Dazu kommt unsere Leistungsgesellschaft. Wir müssen immer brav sein und alles richtig machen. Aber je mehr ich das versuche, desto mehr mache ich auch falsch. Es ist also nicht genetisch bedingt, sondern eher erlernt.
Vergebung heißt Verantwortung für sich übernehmen“
ERF-Online:
„Inwiefern spielt es eine Rolle, ob meine Bitte um Vergebung angenommen wird?“
Dr. Klaus Hettmer:
„Ich denke, es spielt keine so große Rolle. Es ist gut, wenn das passiert, weil dann die Beziehung weiter gehen kann oder wieder möglich ist. Aber es ist nicht notwendig. Sich entschuldigen bedeutet, sich selbst die Schuld zu nehmen. Wenn der andere sagt „Ich verzeihe Dir aber nicht“, kann ich nichts weiter tun. Aber ich bin zu meiner Schuld gestanden und dadurch werde ich sie los. Vielleicht braucht der Andere einfach auch noch Zeit. Wenn der Mann fremdgeht und die Frau kann ihm nicht sofort verzeihen – das darf auch sein. Aber wenn man auf Dauer nicht verzeihen kann, wird die Beziehung meistens auseinanderbrechen.“
ERF-Online:
„Wenn man so hört, dann muss man sich fragen: Warum fällt es uns Menschen so schwer zu vergeben?“
Dr. Klaus Hettmer:
„Das habe ich mich auch gefragt. Es ist irgendwie ein gut gehütetes Geheimnis. Vergebung wird nicht wirklich gelehrt oder weitergegeben. Wenn Menschen Fehler machen, müssen sie sofort zurücktreten. Egal ob in der Wirtschaft oder Politik – man bekommt selten die Chance, es besser zu machen. Zu vergeben ist nicht modern oder wird fast bekämpft.
Etwas anderes erlebe ich oft bei Patienten, die auch so schlimme Dinge vergeben können wie Missbrauch. Da spielt Gott oft eine wichtige Rolle. Ohne Gott wird es sehr schwer fallen, mir selbst oder anderen zu vergeben.
Vergebung heißt übrigens auch, die Wahrheit zu finden. Der andere hat einen Grund für sein Handeln. Diese Erkenntnis kann dabei helfen, nächste Schritte zu gehen. Vergebung ist ein schmaler Pfad. Die breite Straße heisst: „Ich bin wütend und zornig und voller Selbstmitleid.“ Zu vergeben bedeutet, für sich selbst und seine Heilung die Verantwortung zu übernehmen. Viele Menschen wollen oder können aber leider die Verantwortung nicht für sich übernehmen, nach dem Motto: „Leiden ist leichter als lösen.““