Die Geschichte der halben Kreise
Ein Halbkreis war auf der Suche nach einem anderen Halbkreis, um ein ganzer Kreis zu werden. Und er verbrachte viel Zeit mit dem Gedanken an diesen Wunsch.
„Ich muss einen anderen Halbkreis finden, um ein ganzer Kreis zu werden. Ich muss einen anderen Halbkreis finden, um ein ganzer Kreis zu werden“, sagte er sich immer wieder. Und eines Tages fand er ihn.
„Da bist du ja endlich! Ich habe lange nach dir gesucht!“ Und der andere Halbkreis rief freudig: „Ja, ich habe auch lange nach dir gesucht!“.
Sie vereinten ihre wundervollen halben Kreise zu einem Ganzen, doch mit der Zeit stellten sie fest, das immer noch etwas fehlte. Der andere war zwar da und sie dachten, sie seien nun ein perfekter Kreis, doch waren sie es nicht. Sie versuchten einiges, um hinter das Rätsel zu kommen. Der eine Teil des Kreises dachte bei sich: „Vielleicht gibt es einen anderen Halbkreis, der mich besser vervollständigt.“ Der andere Teil wiederum dachte: „Vielleicht nutzt mich mein Partner nur aus, weil ich das habe, was ihm fehlt, um ein Ganzes zu sein.“
Sie trennten sich und lernten neue Halbkreise kennen, denn das Universum war voll von ihnen.
Nach vielen Jahren des Suchens kam dem Halbkreis die Erleuchtung. Er sagte sich: „Ich fühle mich völlig zerrissen von all den unterschiedlichen Halbkreisen, die nur wieder andere Halbkreise suchen , um ein Ganzes zu werden. Doch ich sehe, dass es auch ganze Kreise gibt. Ganze! Solche, die nicht Hilfe suchend nach anderen Kreisen rufen und völlig mit sich im Einklang zu sein scheinen. Und er erkannte, dass es sein Ziel sein musste, ein ganzer Kreis zu werden, damit er dann einen anderen ganzen Kreis finden könnte. Denn nur wenn wir ein Ganzes sind, sind wir in der Lage, andere zu lieben – um ihrer selbst willen und nicht deshalb, weil sie etwas haben, von dem wir denken, dass es uns fehlt.
Wie aber gelangen wir zu solch einer Erkenntnisfähigkeit?
Aus „Das Lächeln der Liebe“ von Ralph Valenteano.
Bild: Alfred Stehbeck