Facharzt für Psychotherapeutische Medizin

Unter Wasser atmen

Leuchtturm

@lunamarina – Fotolia.de

Ich habe mein Haus am Meer gebaut.
Nicht auf Sand, wohlgemerkt,
nicht auf Treibsand.
Ich habe es aus Stein gebaut.
Ein starkes Haus an einem starken Meer.
Und wir haben uns aneinander gewöhnt,
das Meer und ich.
Gute Nachbarn.
Nicht dass wir viel gesprochen hätten.
Wir trafen uns schweigend.
Respektvoll; auf Abstand bedacht.
Aber mit Blick auf unsere Gedanken
Durch den Zaun aus Sand.
Stets mit dem Zaun aus Sand als Grenze, stets den Sand zwischen uns.

 

Aber eines Tages,
und ich weiß immer noch nicht, wie es geschah,
da kam das Meer.
Ohne Warnung.
Auch ohne Einladung.
Nicht plötzlich und schnell
sondern eher wie Wein,
sich durch den Sand einen Weg bahnt,
weniger wie Wasser fließt,
eher wie ein Strömen aus Blut.
Langsam, aber stetig.
Langsam, aber strömend wie eine offene Wunde.

Und ich dachte an Flucht und an Ertrinken
Und an Tod.
Und während ich noch dachte, stieg das Meer höher,
bis es meine Tür erreichte.
Und da wusste ich, es gab keine Flucht, keinen Tod,
kein Ertrinken.

Wenn das Meer kommt und nach dir ruft,
gibt es keine gute Nachbarschaft mehr,
als ob ihr euch gut kennt und freundlich distanziert bleibt.

Du tauscht dein Haus ein gegen ein Schloss aus Korallen, und lernst, unter Wasser zu atmen.

Aus „Zwölf Schritte zur Heilung“ von Richard Rohr (Herder Verlag)