Facharzt für Psychotherapeutische Medizin

Mohnkörner

poppies against the sunset skyJerry ist ein großer Fan von Mohn-Bagels. – je mehr Mohn, desto besser. Beim Verspeisen seines Lieblingsgebäcks hinterlässt er oft eine Spur von Mohnkörnern, die von der Küche bis in sein Arbeitszimmer reicht. Ich weiß, dass er versucht, sie aufzulesen, wenn er sie am Boden sieht, doch Jerrys „Standard“ – was die Gründlichkeit beim Entfernen seiner Spur betrifft. – unterscheidet sich deutlich von meinem.

So finde ich mich oft mit einem nassen Handtuch auf unserem weiß gefliesten Küchenboden, um die von Jerry hinterlassenen Mohnkörner aufzuwischen. Meistens macht mir das nichts aus und ich verschwende auch kaum einen Gedanken daran und verliere kein Wort darüber.

Eines Tages – ich war bereits ziemlich schlecht gelaunt – kam ich die Treppe herunter und betrat die Küche. Ich schaute auf den Fußboden und sah überall Mohnkörner verstreut. Nun ging meine Laune richtig in den Keller. Nachdem ich das Handtuch ergriffen und es etwas energischer als sonst angefeuchtet hatte, begann ich mich zu bücken, um die Körner aufzuwischen. Ich erinnere mich noch genau, woran ich zu jenem Zeitpunkt dachte: „Nur einmal, ein einziges mal, möchte ich in die Küche kommen und keine Mohnkörner auf dem Fußboden finden!“

Mein nächster Gedanke war: „Was wäre, wenn ich von jetzt an nie mehr Mohnkörner auf dem Küchenfußboden fände?“ Die Antwort darauf traf mich wie ein Schlag. Es würde bedeuten, dass es Jerry nicht mehr gäbe!

Tränen stiegen mir in die Augen, als ich mich wieder aufrichtete. Ich betrachtete die Mohnkörner auf dem Fußboden – und auf einmal sahen sie so gut aus, wie sie dalagen! Ich drehte mich um, rannte zu Jerrys Arbeitszimmer, warf meine Arme um ihn und küsste ihn, während ich Freudentränen weinte.

Wenn ich heute die Küche betrete, fühle ich in mir einen tiefen Frieden – egal, wie viele Mohnkörner ich vom Boden aufzulesen habe. Im Gegenteil: wann immer ich sie jetzt auf dem Küchenfußboden sehe, erfüllen sie mich mit Liebe und Dankbarkeit. Und an manchen Tagen lasse ich sie bewusst liegen, drehe mich lächelnd um und gehe hinaus …

(Quelle: Gerald Jampolsky und Diane Cirincione, “Was uns das Leben lehrt”)